Geschichte des Slavischen Instituts
Kurze Geschichte des Slavischen Instituts
Die Vorgeschichte der Heidelberger Slavistik begann Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Lesehalle. In den 1860er Jahren hatten sich nach der Schließung der Sankt Petersburger Universität infolge von studentischen Unruhen zahlreiche russische Studenten in Heidelberg eingefunden. Sie gründeten als Treffpunkt die sog. „Pirogoff’sche Lesehalle“, genannt nach dem Arzt und Hochschullehrer Nikolaj Ivanovič Pirogov (1810–1881). Als Beamter des russischen Bildungsministeriums kümmerte sich Pirogov um die Belange der russischen Studenten in Heidelberg und schickte Berichte über staatliche Auslandsstipendiaten nach Sankt Petersburg. Er wurde als Namensgeber der Lesehalle geehrt, weil er alle Studenten unabhängig von ihrer politischen Einstellung verständnisvoll behandelte. Die Lesehalle wurde zunächst in Räumlichkeiten der Konditorei Helwerth im Haus Kreher (Plöck 52) untergebracht. Sie erhielt am 21. Juli 1883 ein eigenes Statut, das das Verfügungsrecht in Bezug auf die Bibliothek festlegte. Mit der Zeit entstand dort eine nicht unbeträchtliche Büchersammlung (ca. 3.000 Bände im Jahre 1912, geschätzter Wert um die 40–50 Tausend Mark, heute umgerechnet ungefähr €200.000–250.000) mit russischer Literatur verschiedenster Art, darunter eine bedeutsame Sammlung politischer Schriften. Der letztbekannte Standort der Lesehalle vor dem 1. Weltkrieg war am Neckar in der Nähe der Stadthalle.
Das Haus Kreher; Bildnachweis: Heidelberger Mathematiker-Rundgang
Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges nahm die russlandfeindliche Stimmung in Deutschland zu. Alle russischen Staatsbürger wurden bis auf wenige Ausnahmen nach 1914 ausgewiesen. Die Lesehalle wurde aufgelöst und ihre Büchersammlung von der Polizei beschlagnahmt. Die Bücher wurden teilweise an russische Kriegsgefangene in umliegenden Lagern ausgeliehen. Im Jahre 1919 begab sich der spätere Schachmeister Simon Alapin als einzig verbliebenes Mitglied der Lesehalle auf die Suche nach den Büchern. Er fand heraus, dass die Bücher statutengemäß der Universitätsbibliothek übergeben worden waren und dort in Kisten im Keller lagerten. Die Universität schloss 1920 einen Nutzungsvertrag mit der „russischen Gemeinheit“ ab (eigentlich in erster Linie Alapin selbst). Demgemäß wurden die Bücher der Philosophischen Fakultät dauerhaft zur Verfügung gestellt.
Im gleichen Jahr übernahm die Josephine und Eduard von Portheim-Stiftung für Wissenschaft, Forschung und Kunst das gesamte Inventar der einstigen Lesehalle. Die Stiftung wurde vom bedeutenden Mineralogen, Kristallographen und Wissenschaftsmäzen Victor Goldschmidt gegründet und betrieb in der Zwischenkriegszeit etliche Forschungseinrichtungen in Heidelberg. Eines der Hauptziele der Stiftung war die Förderung der sog. „kleinen Fächer“, unter anderem der Slavistik, die an der Universität sonst schwach vertreten waren. Victor Goldschmidt selbst schrieb 1923 bezüglich der Förderung der Slavistik:
„Die Slavische Wissenschaft ist an den deutschen Hochschulen durch die Jahrzehnte in einer unverzeihlichen Weise vernachlässigt worden, trotzdem das grosse Russenreich […] unser grösster und wichtigster Nachbar ist, politisch und wirtschaftlich, trotzdem die slavische Sprachfamilie vielleicht eines der ausgezeichneten Beispiele für das Studium der Entwicklungsgesetze verwandter Sprachstämme ist, trotzdem wirtschaftlich wie militärisch die Kenntnis der russischen wie der anderen slavischen Sprachen von der allergrössten Wichtigkeit ist […] Die deutsche Regierung hat mit dem grossen russischen Nachbarvolke Vogel Strauss gespielt. Es war ihr gefährlich und so hat sie sich um dessen Existenz nichts zu wissen gemacht, ein Fehler, der bei dem jetzigen Lauf der politischen Dinge dringend einer Korrektur bedarf. Die Beziehungen zu Russland sind für die Zukunft Deutschlands von der allergrössten Tragweite und es sollte nicht versäumt werden, diese auszugestalten. Die Universitäten aber sind berufen, die Grundlagen hierzu zu legen und die Beziehungen zu knüpfen. Da die Badische Regierung nicht in der Lage war, ein russisches Forschungsinstitut zu errichten […] sah es die Stiftung als ihre Aufgabe an, hier helfend einzugreifen durch die Schaffung eines Slavischen Instituts. […] Ebenso wie das Sinologische Institut mit China, sucht das Slavische Institut mit Russland […] Beziehungen zu gemeinsamer Forschungsarbeit. Alles Politische ist prinzipiell ausgeschlossen“.
Die slavische Bibliothek wurde im sog. „Deutschen Haus“ (Augustinergasse 5a, heutig. Merianstraße 1) untergebracht und der Universität „lose angegliedert“. Zufällig hatte Dmitrij Mendeleev während seines Heidelberger Aufenthalts 1860/61 im Haus unmittelbar gegenüber, Schulgasse 2, gewohnt. Leider musste die von Portheim-Stiftung den Vertrag schon im Frühjahr 1926 wegen Inflation und finanzieller Engpässe vorzeitig kündigen. Der badische Kultusminister bat darum, die Büchersammlung der Universitätsbibliothek zu übergeben. Die von Portheim-Stiftung willigte vorübergehend ein, einen Teil der Miete für die neuen Bibliotheksräume zu übernehmen. Diese Vereinbarung galt bis 1931, als der Vertrag durch die Stiftung endgültig gekündigt wurde. Die Slavische Bibliothek wurde daraufhin ins ehemalige Ägyptiologische Institut (Augustinergasse 15, heute Schulgasse 6) gebracht.
Neben der Büchersammlung gab es schon um die Jahrhundertwende ein begrenztes Lehrangebot zur russischen Sprache, Geschichte und Kultur an der Universität Heidelberg. Die ersten Vorlesungen über Russland hielt 1896 der Historiker Arthur Kleinschmidt, während die ersten russischen Sprachkurse im Jahr 1904 von einem gewissen Bagrat Chalatianz aus Alexandropol (heutig. Armenien) gegeben wurden.
Die Entstehung des eigentlichen Russisch-Lektorats an der Universität Heidelberg ist mit Nicolai von Bubnoff (1879–1962) verbunden. Geboren in Sankt Petersburg als Sohn des gleichnamigen Kaiserlichen Russischen Wirklichen Staatsrats Nicolai von Bubnoff, studierte er in Leipzig, Freiburg und Heidelberg. Im Frühjahr 1908 wurde er in Heidelberg im Fach Philosophie promoviert. Nach seiner Habilitation hielt er am 1. Juli 1911 seine Antrittsvorlesung als Privatdozent für Philosophie. Während des 1. Weltkrieges wurde von Bubnoff als „feindlicher Ausländer“ interniert. Nach Kriegsende wurde er wieder zur Lehre zugelassen und schließlich 1921 im Badischen Staatsverband eingebürgert. Der Ausbau des Russischunterrichts an der Universität Heidelberg in den 1920er und 1930er Jahren ist fast ausschließlich ihm zu verdanken. Seine Russischkurse fanden zunächst in den Räumen der von Portheim-Stiftung in der Augustinergasse 15 (s. oben) statt. Ab 1931 unterrichtete er im Hörsaal 3 der Alten Universität und nach April 1934 in der Neuen Universität.
Nicolai von Bubnoff
Im Sommersemester 1932 erschienen die ersten Einträge zu Lehrveranstaltungen mit slavischen Themen im Vorlesungsverzeichnis. Nicolai von Bubnoff hielt zu dieser Zeit neben dem Russischunterricht hauptsächlich Vorlesungen zur russischen Literatur- und Geistesgeschichte (s. Diagramm mit Verteilung der Veranstaltungstypen). Neben von Bubnoffs eigenständiger Lehrtätigkeit waren slavistische Lehrinhalte auch im Lehrprogramm des Sprachwissenschaftlichen Seminars (Altkirchenslavisch im Rahmen der Indogermanistik-Seminare von Prof. Hermann Güntert) und am Dolmetscher-Institut (russicher und polnischer Sprachunterricht, teilweise durch von Bubnoff selbst geleitet) vertreten.
(Bildnachweis: Regina Feihle)
Über die Geschichte des Slavischen Instituts im 2. Weltkrieg ist in den Archivakten wenig überliefert. Nach dem Krieg wurde das Institut 1946 wiederbelebt. Nicolai von Bubnoff blieb an der Universität Heidelberg als Honorarprofessor und wurde gleichzeitig zum Professor für Philosophie an der Staatlichen Wirtschaftshochschule Mannheim ernannt. Das Institut musste in diesen Jahren mehrmals umziehen (Augustinergasse 15, 1947; Hauptstraße 126, 1957; Klingenteichstraße 9, 1963).
Die prägende Gestalt in der Geschichte des Instituts in der Nachkriegszeit ist Dmitrij Tschižewskij (1894–1977). Er wuchs in Aleksandrija im Gouvernement Cherson auf, studierte vor dem 1. Weltkrieg in Sankt Petersburg und wechselte 1913 aus politischen Gründen an die Universität Kiew. Als engagierter Sozialdemokrat (Menschewik) entging er nur mit knapper Not der Erschießung durch die Bolschewisten und floh im Frühjahr 1921 über die polnische Grenze nach Deutschland. Es folgten Studienaufenthalte in Heidelberg und Freiburg. Geldnot zwang ihn jedoch, eine Dozentur an der Ukrainischen Pädagogischen Hochschule in Prag aufzunehmen. Tschižewskij litt dort nicht nur unter den schlechten wissenschaftlichen Bedingungen, sondern auch an der unzureichenden Vergütung seiner Lehrtätigkeit. Durch das Schreiben von Rezensionen für Zeitschriften verbesserte er seine Lage. Unter anderem bekam er dadurch neue Rezensionsexemplare, die seine Bibliothek erweiterten. Gelegentlich konnte er die Semesterferien in Freiburg verbringen. 1932 erhielt er eine Stelle als Lektor für Slavistik in Halle. Während der NS-Diktatur konnte er als Staatenloser Halle und Deutschland nicht verlassen und bemühte sich, unauffällig zu leben. In Halle entdeckte er unerwartet in der Waisenhaus-Bibliothek der Franckeschen Stiftungen die verloren geglaubte Handschrift der Pampaedia des tschechischen Pädagogen und Universalgelehrten Johann Amos Comenius (Komenský). Die Beschäftigung mit diesem Werk beeinflusste seine Forschung in den nachfolgenden Jahrzehnten maßgeblich.
Dmitrij Tschižewskij
Nach dem Krieg floh Tschižewskij 1945 vor der anrückenden Sowjetarmee nach Marburg. Aufgrund fakultätspolitischer Intrigen kam es dort jedoch nicht zur versprochenen Berufung auf einen Lehrstuhl. Von Marburg wurde holte ihn Roman Jakobson als Gastprofessor nach Harvard, wo er bis 1956 lehrte. Um sein Hauptforschungsinteresse, die deutsch-slavischen Beziehungen, weiterverfolgen zu können, kam er auf Vorschlag von Hans-Georg Gadamer nach Heidelberg und wurde Außerordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät sowie Leiter des Slavischen Instituts. Neben der Lehre lag ihm die laufende Erweiterung und Vervollständigung der slavistischen Bibliotheksbestände am Herzen. Tschižewskij unterrichtete ununterbrochen bis seinen Tod im Jahre 1977. Sein Grab befindet sich auf dem Heidelberger Bergfriedhof. Seine umfangreiche Privatbibliothek mit über 12.000 Bänden, zahlreichen Briefen und Teilen seines Privatarchivs wurde nach seinem Tod von der Universitätsbibliothek erworben.
Die Besetzung der Lehrstühle nach Tschižewskij kann anhand der unten abgebildeten Zeitstrahl nachvollzogen werden. Eine Besonderheit ist seit 1974 die Teilung in getrennte Lehrstühle für Sprach- und Literaturwissenschaft, eine Unterscheidung, die unter Nicolai von Bubnoff und Dmitrij Tschižewskij noch nicht bestand. Die Auffächerung der Einzelphilologien in diese zwei Teildisziplinen war damals nicht stark ausgeprägt. Abgesehen davon waren beide Männer, insbesondere Tschižewskij, uomini universali, die die ganze Breite der slavischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften abdeckten.
(Bildnachweis: Regina Feihle und Evelin Schlegel, mit Ergänzungen und Anpassungen)
W. R. Thompson
Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung „Geschichte der Heidelberger Slavistik“ im Sommersemester 2023 unter Mitwirkung der Studierenden Regina Feihle, Evelin Schlegel, Jacqueline Unruh, Kirill Shelepov und Max Behmer. Einzelne Bildbeiträge aus ihren Referaten sind entsprechend gekennzeichnet. Bei der Erforschung der Biographie von Dmitrij Tschižewskij waren die wissenschaftlichen Aufsätze sowie die persönlichen Erinnerungen von Dr. Brigitte Flickinger unentbehrlich. Ein herzlicher Dank gilt auch Sabrina Zinke (Universitätsarchiv Heidelberg), Clemens Rohfleisch (Universitätsbibliothek Heidelberg), Robert Bitsch (von Portheim-Stiftung), Irene Mohl und Ingrid Moser für ihre Hilfe bei der Recherchearbeit und der Redigierung des Textes.
Korrekturvorschläge oder Ergänzungen sind jederzeit willkommen und können an walker.thompson@slav.uni-heidelberg.de geschickt werden.
Quellen (zum Ausklappen klicken)
Archiv- und Bibliotheksbestände- Universitätsbibliothek Heidelberg, Handschriftenabteilung: Heid. Hs. 3881, Nachlass (1945–1977), Briefe von und an D.I. Tschižewskij.
- Universitätsarchiv Heidelberg (UAH) B-6558/1. Generalia Institute. Slavisches Institut (Russische Pirogovsche Lesehalle). 1919–1930.
- UAH B-6558/2. Generalia Institute. Slavisches Institut (Russische Pirogovsche Lesehalle). 1931–.
- UAH PA-3420 (ehem. B-3099). Personalakte N. von Bubnoff.
- UAH H-IV-582/1. Berufungsakte Tschižewskij.
- UAH PA-7252. Personalakte Tschižewskij, 1956–1977.
- Heidelberger Akademie der Wissenschaften (HAW) 481, 115.
- Willy Birkenmaier: Das russische Heidelberg. Heidelberg: Wunderhorn, 1995.
- Brigitte Flickinger: Dmitrij Ivanovich Chizhevskij v dvuch mirach. In: Filosofskij Polilog, 9 (2021), Nr. 1. S. 184–210. DOI: 10.11588/heidok.00032351.
- ―――: Dmytro Ivanovich Chyzhevskyi: Ukrainian-Russian scholar, professor in Germany. In: Mulʹtiversum: filosofsʹkij alʹmanah 2(174), 2021, Nr. 2, S. 101–126. DOI: 10.11588/heidok.00032375.
- Angela Richter: „Ein Ukrainer an der halleschen Universitätt: Dmitrij Tschižewskij“ (1894–1977). In: Scientia Halensis 1/1997, S. 13.
- Hans Jürgen zum Winkel: „Das Slavische Institut der Universität Heidelberg: Zur Vorgeschichte und Geschichte“. In: Harder et al. (Hrsg.): Materialien zur Geschichte der Slavistik in Deutschland. T. 1. Berlin / Wiesbaden: Harrassowitz, 1982, S. 135–164.
- ―――: „Slawistik“. In: W. U. Eckart, V. Sellin und E. Wolgast (Hrsg.). Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2006.
- „Historia Mathematica Heidelbergensis“ (zur Russischen Lesehalle und Haus Plöck 52), <http://histmath-heidelberg.de/heidelberg/mathrund-www/51.htm> (letzter Aufruf: 14.04.2024)
- „Dimitrij [sic!] Tschižewskij (1894–1977)“. Universitätsbibliothek Heidelberg. <https://www.ub.uni-heidelberg.de/ausstellungen/625jahre2011/exponate/sektion2/15_02.html> (letzter Aufruf: 14.04.2024).
- „Slavisches Institut“. Universitätsbibliothek Heidelberg. <https://www.ub.uni-heidelberg.de/ausstellungen/625jahre2011/pdf/institut_slavistik.pdf> (letzter Aufruf: 14.04.2024).